Viele Jahre konnten sich QR-Codes in Deutschland nicht so richtig etablieren. Doch dann kam Corona. Nach dem ersten Lockdown im Frühjahr 2020 prangten die schwarz-weißen Vierecke auf nahezu jeder Menükarte in Bars und Restaurants. Doch schon länger begegnet man ihnen auch auf dem Friedhof, genauer gesagt auf den Gräbern selbst. Denn Online-Gräber sind im Trend. Wie unsere gesamte Gesellschaft, digitalisiert sich auch die Trauerkultur immer mehr.
Das bepflanzte Rechteck. Der geschliffene Stein. Ein buntes Leben mit allen Höhen und Tiefen reduziert sich nach dem Tod bislang noch sehr häufig auf die physische Grabstätte – eine von vielen eingereiht unter Bäumen, für Passanten kaum voneinander zu unterscheiden. Dabei ist Individualismus für die Generationen, die sich jetzt langsam ihrer Lebensmitte nähern, so wichtig. Während sie Selbstdarstellung und Selbstverherrlichung in den sozialen Medien leben, ist das Thema bei Bestattungen bislang kaum angekommen. Die Digitalisierung von Gräbern mithilfe von QR-Codes könnte dabei ein wichtiger Schritt sein, mit dem alltäglichen Leben auch die Trauerkultur mehr und mehr in die überdauernde Online-Welt zu verlagern.
Bebildert, blinkend, bunt – so sehen digitale Gedenkstätten aus. Friedhofsbesucher scannen den QR-Code, der meist entweder direkt in den Grabstein geschliffen oder in die Bepflanzung davor eingebettet ist. Die Aufnahme via Smartphone leitet sie direkt zur persönlichen Erinnerungsseite der verstorbenen Person weiter. Eine Seite, die kreativ von den Hinterbliebenen gestaltet ist. Wie bei einem Mädchen, das wir Hannah nennen. Sie heißt eigentlich anders: 20 Jahre alt, bei einem Autounfall verunglückt. Sie hörte am liebsten Pop und R’n’B wie Beyoncé oder Rihanna. Wer ihre Seite öffnet, hört erst einmal „Diamonds in the Sky“. Viele Bilder zieren sie. Hannah mit Freunden, Hannah mit Familie, Hannah mit Hund. Einfach Hannah eben. Die gelbe Strickjacke, die sie auf mehreren Bildern trägt, war ihr Lieblingskleidungsstück. Sie mochte es wohl gern kuschelig. Sie hat gerne gelesen – „Die Bücherdiebin“ fand sie gut. Videos, die sie für TikTok aufgenommen hat, können an der Seite angewählt werden. Sie zeigen, wie lebensfroh sie war. Auf dem Bildschirm verteilt sind Gedanken, Erinnerungen und Gefühle ihrer Hinterbliebenen, die sich genauso an Hannah erinnern und erinnern wollen. Es scheint ein bisschen die Endlichkeit zu nehmen.
Bei der Gestaltung einer solchen Gedenkseite ist alles erlaubt, was die verstorbene Person beschreibt und ausmacht. Es gibt Webseiten-Anbieter wie gemeinsam-trauern.de, gedenkseiten.de oder vilonga.de, die die Gestaltung von Gedenkseiten anbieten und Beispiele verstorbener Personen aus dem öffentlichen Leben zeigen. Eine Gedenkseite kann mit eingeschränkten Funktionen kostenlos erstellt werden oder kostet bis zu 60 Euro im Jahr für Privatpersonen und bis zu 200 Euro für Unternehmen. Auch Bestatter:innen haben Online-Gedenkseiten mittlerweile in ihr Portfolio aufgenommen. So sollen Besucher:innen einen ganz persönlichen und plastischen Eindruck von ihr bekommen. Die Seiten lesen sich nicht nur als Trauernachrufe, sondern als liebevolle Einträge, die an den Verstorbenen oder die Verstorbene selbst gerichtet sind. Besucher:innen der Seite können Anteil an der Trauer nehmen, indem sie die verstorbene Person kennenlernen. Nach dem Besuch ist es möglich, Worte und Gedanken an die Gestalter oder dem Verstorbenen selbst zu hinterlassen, eine virtuelle Kerze zu entzünden sowie ein Gebet oder Segensspruch niederzuschreiben. Zudem können Freunde und Angehörige digitale Grabstätten erstellen. Damit lässt sich zum Beispiel der Standort eines physischen Grabes auf einem Friedhof digital einsehen.
Gedenkseiten werden mittlerweile auch im Rahmen der Bestattungsvorsorge von einigen Bestattern oder über Plattformen, die sich mit der Thematik beschäftigen, angeboten. Die Bild- und Urheberrechte von Fotos und Videos, die Hinterbliebene auf der Gedenkseite veröffentlichen, gehen nach dem Tod der Person in der Regel automatisch an Familienmitglieder. Diese dürfen dann über die Veröffentlichung und Nutzung entscheiden. Bei Musikstücken oder anderen Inhalten, die nicht der verstorbenen Person oder Familie gehören, ist immer mindestens ein Quellenverweis erforderlich. Bei den rechtlichen Hinweisen achten aber die Anbieter auch sehr genau darauf, damit sich die Gestalter gänzlich ihrer Trauer widmen können.
Trauernde haben oft ein Bedürfnis, über ihre Trauer zu sprechen. Mit geliebten Menschen über die Traurigkeit zu sprechen, wirkt befreiend und kann die Schmerzen lindern“, schreibt das Bestattungsinstitut November auf ihrer Homepage zur Trauerbewältigung. Alltägliche Rituale, wie das Aufstellen von Bildern des Verstorbenen, das Führen eines täglichen Journals über die Gefühlswelt oder gar Briefe an die verstorbene Person, würden helfen mit der Trauer und den Gedanken umzugehen. Eine individuell gestaltende Seite könne den Hinterbliebenen helfen, viele würden sich aufgefangen und verstanden fühlen. Vielleicht gibt es unter ihnen Menschen, die einen ähnlichen Verlust erlitten haben oder Worte dafür gefunden haben, die den Angehörigen noch fehlen. Eine so öffentliche Trauerbewältigung spende durchaus Kraft und Trost. Es werde eine Art digitale Geborgenheit vermittelt.
Doch es gibt auch kritische Stimmen. Sie fürchten, dass die digitale Trauerbewältigung Menschen voneinander entfremdet. Auf den ersten Blick zeigt diese zwar eine Offenheit der Beileidbekundenden, ermöglicht ihnen aber auch eine Distanz zum Leid der Hinterbliebenen. Der amerikanischen Trauertherapeutin Megan Devine zufolge, werde die Trauer von Hinterbliebenen mehr und mehr unterdrückt, weil es keinen Raum dafür gebe. In ihrem Buch „Es ist okay, wenn du traurig bist“ warnt sie vor einer „Epidemie der unausgesprochenen Trauer“, die psychische Folgeerkrankungen fördert.
Der Umgang mit dem Tod ist höchst individuell. Für manche ist so eine Gedenkseite undenkbar, für andere aber eine echte Unterstützung. Entscheidend ist, was bei Trauer helfen kann und dem Wunsch des Verstorbenen oder der Verstorbenen nachzukommen. Wo Angehörige Trost finden, ob auf einem echten Friedhof oder einer digitalen Gedenkseite ist dabei fast zweitrangig.
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